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Narrenseil

Am Seili abeloh!

Wer von der Narrenzunft Honolulu am Seil hinunter gelassen wird, dem wird gleichermassen Spott wie Ehre zuteil. Dies gilt ganz besonders für jene historischen Figuren, welche aus dem Elysium, dem Narrenhimmel, für einen Tag im Jahr am Seil auf die fasnächtlichen Gassen Solothurns herunterschweben. Zu sehen sind sie jeweils am Kinderumzug am Schmutzigdonnschtig.
Die Narrenzunft nimmt seit Jahrzehnten ausgewählte Persönlichkeiten auf das Narrenseil (auch „Narrenleiter“ genannt) auf. Zumeist handelt es sich dabei um „reale“ Frauen und Männer, die natürlich erst posthum am Narrenseil ein Andenken erhalten; seltener werden auch fiktive Figuren auf das Narrenseil aufgenommen.
Die Anzahl der Figuren schwankt, mal kommt eine neue dazu, mal fällt eine weg.
Allen Figuren gemeinsam sind die Verbundenheit mit Solothurn und die Popularität. Dabei spielt es keine Rolle, welchen sozialen Status die Figur zu Lebzeiten hatte.
Realität und Fiktion vermischen sich am Narrenseil. Würdenträger stehen direkt neben Randfiguren. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie sind personifizierte Denkmäler eines stadtsolothurnischen Heimatgefühls.

Die Figuren auf dem Narrenseil

Fotos: Martin Jeker

Hilarius Hilarius Immergrün: Er führt das Narrenseil im Nachtwächterkleid an. Hilarius ist eine fiktive Figur, die der Solothurner Schriftsteller Alfred Hartmann in seinem Postheiri geschaffen und einem Nachtwächter seiner Zeit namens Kiefer nachempfunden hat. Mit seinem „Spektiv“ (Fernrohr) erspäht Hilarius allerlei Berichtenswertes, über das er denn auch gern berichtet.
Elisi Elisi ist Immergrüns Tochter, ein veritables Rätschwyb mit losem Mundwerk, vor dem nichts und niemand im Städtchen sicher ist. Elisi hat indes auch eine sentimentale Seite und schwärmt für Theater, Balladen – und besonders schmachtend für seinen geliebten Verlobten, Jules.
Postheiri Der Postheiri ist die erste reale Figur auf dem Narrenseil: Heinrich Meister, seit 1836 erster und einziger Stadt-Briefträger Solothurns, war schon zu Lebzeiten besser bekannt als Postheiri. Sein Humor war so legendär, dass Alfred Hartmann seine Satirezeitung nach ihm benannte. Meister pflegte, den Briefträgerkittel während der Fasnachtszeit verkehrt herum zu tragen.
Der Kesselflicker Bassi Der Kesselflicker Bassi ist eine weitere reale Persönlichkeit, die auf dem Narrenseil ein Andenken erhalten hat. Basil Büttiker hauste zu Lebzeiten als Clochard in der Grafenfelshöhle, in der heute eine Zivilschutzanlage untergebracht ist. Bassi, wie ihn alle nannten, war insbesondere bei den Kindern gefürchtet. Er soll in seiner Höhle auf Stroh geschlafen haben.
Albertini Probst Auch Albertini Probst hat wirklich gelebt, bevor sie es auf das Narrenseil schaffte. Die Marktfahrerin war stadtbekannt. In der Löwengasse führte sie einen kleinen Laden, in dem sie vor allem Gemüse verkaufte. Man sagte ihr vier uneheliche Söhne nach. Wenn ein Mann sie zu fragen getraute, wie es ihren Buben gehe, soll er die kecke Antwort erhalten haben: „Dym gohts guet!“. Albertini hausierte zuweilen mit dem Kinderwagen und war oft auch am Wirtshaustisch – unter Männern – anzutreffen.
Casanova Als einziger Auswärtiger schaffte der venezianische Abenteurer und Playboy Casanova den Sprung auf das Narrenseil der Narrenzunft Honolulu. Gemäss der Legende reiste Casanova nach Solothurn, um hier der hübschen Ludovica von Roll nachzustellen. Fast hätte er sein Ziel erreicht, doch am Ende erwischte Casanova nur eine hässliche Magd – und von dieser eine unschöne Krankheit.
Der Oberchessler Der Oberchessler ist der Anführer der grossmächtigen Chesslete, mit der in Solothurn die Fasnacht eröffnet wird. Die „Kesslete“ wurde 1895 erstmals erwähnt, heute ist sie längst zum Volksauflauf geworden. Der Oberchessler stammt jeweils aus der Mitte der Aktivzünftler der Narrenzunft Honolulu und er wählt am Ende seinen Nachfolger eigenhändig aus.
Dr. Manfred Bott Dr. Manfred Bott war in und um Solothurn bekannt als gestrenger Korpsarzt. Er traute sich auch Ferndiagnosen zu – sprich: Doktor Bott untersuchte die Soldaten, ohne von seinem Pferd herunter zu steigen. Bekannt war er auch für stramme Sprüche im Stile von: „Mein Lieber, ich trinke, aber Du suufsch!“
Curt Michel Curt Michel, Ehrendomherr, Stadtpfarrer und Feldprediger, erhielt ebenfalls ein Andenken auf dem Narrenseil. Er ist 1951 verstorben.
Je suis belle Die Figur „Je suis belle“ geht zurück auf die Klavierlehrerin Frieda Marie Vogt (1867-1949). Sie hat sich seinerzeit auch den Übernamen Märetgiraff eingehandelt.
Bin im Walde Solide verbürgt ist auch die Figur „Bin im Walde“: Mit ihr wird auf dem Narrenseil Wilhelm von Arx erinnert, ein ehemaliger Kantonsoberförster. Er war eher romantisch veranlagt, hielt sich während der Bürozeiten oft und gern im Walde auf, sprach von den Bäumen als seinen Brüdern. Von Arx hinterliess auch sonst Spuren: als Gründer des Trachtenvereins und des Trachtenchörlis sowie als Regisseur, Mitspieler und Präsident der Liebhaber-Theater-Gesellschaft.
Cheschtelemuni Als bisher letzte Figur wurde der Cheschtelemuni auf das Narrenseil aufgenommen. Mit ihr ehrt die Narrenzunft den Marronibrätler Giovanni Gianora aus Semione, der von 1871 bis 1926 Solothurns „Cheschtelemuni“ war. Zu diesem Übernamen kam er wegen seines angeblich enorm breiten Stierennackens. Gianora schenkte Schülern Marroni, wenn sie ihm ihre Schulhefte überliessen, die er als Marronitüten verwendete. Wenn er in den Heften viele Fehler entdeckte, rief der Muni: „Du, Glyne, du in die Schuel besser lehre und söner sribe und nid so vill Fähler magge!“ Gianora ist 1934 gestorben und 2003 auf dem Narrenseil wiederauferstanden.
Turmwächter Zwei Turmwächter sind ebenfalls auf der Narrenleiter zu finden; allerdings ist heute nicht mehr auszumachen, für welche Personen oder Figuren sie stehen.

Als Heiliger Seiler wurde Ludwig Wirz auf das Narrenseil aufgenommen. Er betrieb zu Lebzeiten (Ende 19. Jahrhundert) eine Seilerei und amtete nebenbei an Prozessionen und Beerdigungen als Fähnrich der St-Anna-Kongregation. Zudem hatte er als „Bieter“ die Aufgabe übernommen, von Haus zu Haus Beerdigungen anzukündigen. Er sprach dem Wein zu, was ihm folgenden Spottreim eintrug: „Nach Weinkonsum, wie dem so sei – trug er halt der Fahnen zwei!“

Robert Schreiber fand als Schlosser Schryber ein Andenken auf dem Narrenseil. Er betrieb anfangs des 20. Jahrhunderts ein Geschäft an der Löwengasse und soll oft und gern mit Fremdwörtern schwadroniert haben.

Nicht ganz gesichert ist der Hintergrund der Narrenseil-Figur Der Erbe. Vermutlich spielte die Narrenzunft mit ihr auf eine Erbschaftsgeschichte der 1860er Jahre an: Damals sollen alle Solothurner Wirz versucht haben, an das Erbe des holländischen Generals Würz heranzukommen.